NETZWERK ARTIKEL 3

Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.

Antidiskriminierungsgesetze für Behinderte weltweit – ein Überblick

Kongreß “ Gleichstellungsgesetze jetzt!” in Düsseldorf, 20. - 21. Oktober 2000

© 2000: Prof. Dr. Theresia Degener, LL.M.

1.   Einleitung:  UN Rahmenbestimmungen und ADA als rechtliche Motoren für ein neues Denken in der Behindertenpolitik: Vom Musterkrüppelchen zum Staatsbürger

Die neunziger Jahre waren in rechtlicher Hinsicht eine bedeutende Dekade für behinderte Menschen. Auf internationaler, supranationaler und nationaler Ebene wurden zahlreiche Antidiskriminierungsvorschriften speziell für behinderte Menschen verabschiedet. Diese neuen Gleichstellungsnormen markieren einen Paradigmawechsel in der Behindertenpolitik weltweit. Behinderte Menschen werden damit nicht mehr nur als Almosenempfänger, als EmpfängerInnen staatlicher Wohlfahrts- und Rehabilitationsleistungen angesehen, sondern in erster Linie als Menschenrechtssubjekte, als Staatsbürger und StaatsbürgerInnen, die gleiche Rechte haben, denen aber in der Vergangenheit Gleichberechtigung durch vielfältige Diskriminierungsformen verwehrt wurden. Dieser Paradigmawechsel wird international als Wende vom medizinischen Verständnis von Behinderung zum sozialen Verständnis von Behinderung bezeichnet, denn das neue Denken über Behinderung ist das zentrale Moment dieses veränderten Bewußtseins. Während die medizinische Sichtweise von Behinderung, die Probleme behinderter Menschen als individuelles Schicksal aufgrund medizinisch - biologischer Defizite einordnet, werden diese nach dem sozialen Verständnis als Umweltprobleme analysiert. Die Tatsache, daß eine Schülerin, die einen Rollstuhl benutzt, nicht die Regelschule besucht, ist danach nicht die tragische Folge ihrer Rückenmarksverletzung, sondern eine Folge diskriminierenden Verhaltens und Entscheidungen, wie etwa der, keine Rampen zu bauen, den Unterricht nicht ins Parterre zu verlegen, die Unterrichtsform inflexibel zu gestalten, etc. Nach der medizinischen Sichtweise muß ein Mensch mit Behinderungen beweisen, daß er oder sie gleichberechtigt leben kann, nach der sozialen Sichtweise müssen nichtbehinderte Menschen, die behinderten Menschen gleiche Teilnahmemöglichkeiten verwehren wollen, beweisen, daß behinderte Menschen nicht gleichberechtigt leben können.

Rechtlich findet diese veränderte Beweislastverteilung in der Behindertenpolitik in Antidiskriminierungs- und Menschenrechtsvorschriften ihren Ausdruck.

Zwei Rechtsquellen sind in diesem Zusammenhang zu nennen, die weltweit den Anstoß zu dieser Entwicklung gaben. Auf internationaler Ebene sind es Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte, die am 20.Dezember 1993 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig verabschiedet wurden. Nach Regel 15 der Rahmenbestimmung sind die Staaten der Vereinigten Nationen verpflichtet, diskriminierende Rechtsvorschriften aus ihren Rechtsordnungen zu beseitigen und den rechtlichen Rahmen für die Gleichberechtigung behinderter Menschen zu schaffen. Viele der heute existierenden Anti-Diskriminierungsgesetze für behinderte Menschen wurden unter Berufung auf diese internationale Rechtsnorm verabschiedet.

Die zweite maßgebliche Rechtsquelle, die international als Modellgesetz wirkt, ist das Amerikaner Mit Behinderungen Gesetz (Americans With Disability Act, ADA), das 1990 vom US Kongreß verabschiedet  wurde. Es ist nicht das erste US-amerikanische Gleichstellungsgesetz für Behinderte, aber das umfassendste, das die Behindertendiskriminierung in allen gesellschaftlichen Bereichen, im öffentlichen und privaten Arbeits- und Wirtschaftsleben, im Dienstleistungsgewerbe, im Verkehr, in der Telekommunikation und vielen anderen Bereichen verbietet.    

2.   Welche Gleichheit? Formale oder Strukturelle Gleichberechtigung?

Die Frage, welche Gleichheit verwirklicht werden soll, ist zentral für behindertenspezifisches Antidiskriminierungsrecht. So kann man die Sonderschule für Behinderte als Begünstigung oder als Diskriminierung ansehen, wenn man die Aristotelische Gleichheitsformel anwendet, nach der Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muß. Behinderte Schüler sind nicht wie nichtbehinderte Schüler, also werden sie anders, nämlich sonderbeschult. Nach diesem formalen Gleichheitsverständnis haben behinderte Menschen so gut wie nie ein Recht auf Gleichberechtigung, denn sie wurden in der Vergangenheit und auch heute überwiegend als verschieden, also als nicht-gleich betrachtet. Oder Behinderten wird formale Gleichbehandlung gewährt, die ihnen nichts nützt, weil sie unter Bedingungen der Assimilation gewährt wird. So dürfen Gehörlose ja an allen öffentlichen Veranstaltungen, genauso wie Hörende teilnehmen, nur diese formale Gleichheit ist eine Scheingleichheit, wenn nur die verbale Sprache zählt.

Die Rahmenbestimmungen und das ADA sind auch in ihrem Gleichheitsverständnis modellhaft, denn sie beinhalten das Konzept der strukturellen Gleichheit. Die Rahmenbestimmungen beschreiben diese strukturelle Gleichheit folgendermaßen:

«Der Grundsatz der Gleichberechtigung impliziert, daß die Bedürfnisse eines jeden einzelnen Menschen von gleicher Wichtigkeit sind, daß diese Bedürfnisse zur Grundlage der Planung der Gesellschaften gemacht und daß alle Ressourcen so eingesetzt werden müssen, daß für jeden Menschen die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe gewährleistet ist.»

Das ADA beinhaltet eine Definition von Behindertendiskriminierung, die nicht dem formalen sondern dem strukturellen Gleichheitskonzept folgt. So liegt Diskriminierung im Arbeitsleben nicht nur vor, wenn der Arbeitgeber eine ansonsten qualifizierte behinderte Bewerberin nicht einstellt, weil er befürchtet, daß sich dadurch das Betriebsklima verschlechtert,  oder weil er persönlich nichts mit Behinderten zu tun haben möchte. Behindertendiskriminierung liegt nach dem ADA auch vor, wenn der Arbeitgeber einen Behinderten nicht einstellt, weil er den Arbeitsplatz erst behindertengerecht gestalten müßte. Im ADA heißt diese Art der Diskriminierung: denial of reasonable accommodations, also die Verweigerung zumutbarer Anpassungen. Die Pflicht zur zumutbaren Anpassung, die nach dem ADA für alle Arbeitgeber [1], alle Schulen, alle Behörden oder Anbieter von öffentlichen oder privaten Dienstleistungen gilt, erkennt an, daß es in unserer Gesellschaft strukturelle Barrieren gibt, die beseitigt werden müssen, um behinderte Menschen Gleichberechtigung zu ermöglichen. Diese Pflicht ist nicht grenzenlos, sie endet dort, wo die Anpassungsmaßnahme eine unzumutbare Härte für den Arbeitgeber oder sonstigen Verpflichteten darstellt. Das hängt vom Einzelfall ab, u.a. auch von der Größe des Betriebs.

Ein weiterer Gleichheitsgrundsatz des ADA ist, daß behinderte Menschen nicht „seperate but equal“ behandelt werden dürfen. „Seperate but equal“ heißt gleich aber getrennt und leitet sich rechtshistorisch aus der Rassentrennung in den USA, die bis 1954 auch in den öffentlichen Schulen noch legitimiert wurde, ab. Seit der bahnbrechenden Entscheidung des US Supreme Courts gegen die Rassentrennung in den Schulen gilt die Separierung von Minderheiten oder benachteiligte Gruppen als Diskriminierung.  Für behinderte Menschen dürfen daher keine Sonderausgänge in Restaurants geschaffen werden, Verkehrsbetriebe dürfen sich nicht mit der Einrichtung von Behindertenfahrdiensten begnügen.  

In den Beratungen des Kongresses zum ADA heißt es erklärend: " Der Zweck ( vom ADA) besteht darin, die Barrieren für die integrative Teilnahme von Menschen mit Behinderungen  in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu durchbrechen. (...) Seperate-but-equal-Leistungen erreichen dieses zentrale Ziel nicht und sind abzulehnen. Die Tatsache, daß es verwaltungstechnisch oder finanziell angehmer ist, Sonderdienstleistungen anzubieten, ist keine gültige Rechtfertigung für separate oder andere Dienstleistungen. Auch die Tatsache, daß getrennte Dienstleistungen gleich gut oder besser als die regulären Angebote sind, ist keine ausreichende Rechtfertigung für die ungewollte Sonderbehandung von Menschen mit Behinderung. Während  (...) dieser Titel nicht die Existenz  aller separater Leistungen, die Menschen mit Behinderung nützen, verbietet, (...) darf die Existenz dieser Sonderleistungen niemals dazu benutzt werden, Menschen mit Behinderungen von Maßnahmen, die Menschen ohne Behinderungen angeboten werden, auszuschließen, oder die behindertengerechte Anpassungen regulärer Maßnahmen zu verweigern. (...) Das Prinzip der zumutbaren Anpassungen ist zentral für das Nichtdiskriminierungsgebot." [2]

 

3.   Überblick über das ausländische Recht

 

Ein Viertel der 189 UN-Mitgliedstaaten haben heute Antidiskriminierungsvorschriften für behinderte Menschen in ihren Rechtsordnungen. Das sind über 40 Staaten, von denen längst nicht alle zu den sogenannten Industrienationen gehören. Neben den USA, Australien, Kanada, England oder Hong Kong haben auch Länder wie Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Äthiopien, die Fiji Inseln, Indien, Malawien, Süd Afrika, die Philippinen, Uganda oder Zimbabwe in den letzten zehn Jahren entsprechende Gesetze verabschiedet. Rechtlich lassen sich dabei vier Vorgehensweisen unterscheiden.

  1. Einige wenige Länder habe Behindertendiskriminierung als Straftat definiert.
  2. Andere haben – wie Deutschland – eine Diskriminierungsschutznorm in ihre Verfassung aufgenommen.
  3. Eine dritte Variante ist die Verabschiedung eines zivilrechtlichen Gleichstellungsgesetzes und
  4. eine vierte die Aufnahme von Gleichstellungsnormen in Sozialgesetzen, also dem Gebiet des klassischen Behindertenrechts.

Eine von mir gerade abgeschlossene Analyse dieser Rechtsnormen hat ergeben, daß die dritte Variante, also ein zivilrechtliches Gleichstellungsgesetz, die effektivste und der modernen Gesellschaft angemessenste Lösung zu sein scheint. Diese Gesetze basieren in der Regel auf einem strukturellen Gleichheitsverständnis, enthalten die Pflicht zur aktiven Beseitigung der strukturellen Barrieren und erstrecken sich ausdrücklich auf die zentralen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere Arbeit, Bildung, öffentlich Räume und Veranstaltungen, Verkehr und Kommunikation.

Ein weiterer wichtiger Trend im modernen Behindertengleichstellungsrecht, ist die klare Aufgaben- und Kompetenzzuweisung für die Durchführung und Durchsetzung der Antidiskriminierungsgesetze. In der Regel spielen Interessenverbände von Menschen mit Behinderungen hier eine zentrale Rolle oder es werden neue Gleichstellungskommissionen errichtet, die mit der Überwachung der Durchführung des Gesetzes betraut werden. Oft werden behinderte Menschen als Sachverständige in diese Kommissionen berufen, einige Gesetze, etwa in Indien, Zimbabwe, Ghana, oder Zambia sehen dies zwingend vor. Die Verbandsklage ist ein wichtiges und oft genutztes Instrument zur Durchsetzung von Antidiskriminierungsvorschriften.

Ein anderes wichtiges Instrument ist die Durchsetzung durch Aufklärung und technische Beratung. Die USA sind hier vorbildlich. So hat Präsident Clinton nicht nur zahlreiche behinderte BeraterInnen eingestellt und mit Durchsetzungskompetenzen ausgestattet, es wurden auch flächendeckende Beratungsbüros eingerichtet, die Unternehmen, Schulen und sonstige Institutionen über ihre Pflichten nach dem ADA beraten und ihnen Hilfen zur Umsetzung der Gleichstellungsvorschriften anbieten. Flächendeckend wurden in allen Staaten auch rechtspolitische Büros eingerichtet, die behinderte Menschen über ihre Rechte aufklären und Ihnen Rechtsbeistand zur Durchsetzung des ADA gewähren. Das Justizministerium handelt mit großen Unternehmen wie McDonalds oder Greyhound außergerichtliche Umsetzungsvereinbarungen aus, in denen sich die Unternehmen zur Abwendung oder Milderung anhängiger Klagen, dazu verpflichten, in all ihren Filialen Barrieren zu beseitigen.

Insgesamt läßt sich sagen, daß modernes Behindertengleichstellungsrecht weltweit dem strukturellen Gleichheitsprinzip folgt, d.h. alle «Marktteilnehmer» zur aktiven Beseitigung von Behindertenbarrieren auffordert und Sondereinrichtungen und Sonderleistungen für Behinderte als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot ablehnt. 

 

4.   Lehren für Deutschland

Die USA sind nicht das einzige Land, das Antidiskriminierungsgesetze für Behinderte verabschiedet hat. Weltweit sind die Weichen auf Gleichstellungsgesetze für Menschen mit Behinderungen  gestellt. Deutschland gehört zwar mit Artikel 3 unseres Grundgesetzes zu den 25% fortschrittlichen UN-Staaten, die Gleichstellungsvorschriften für Behinderte in ihre Rechtsordnungen aufgenommen haben. Im Hinblick auf das Ziel der strukturellen Gleichberechtigung behinderter Menschen fällt Deutschland noch weit hinter Entwicklungsländer wie Uganda, Zimbabwe oder Philippinen zurück. Zur Standortsicherung vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung ist Deutschland gut beraten, ein umfassendes Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen zu verabschieden. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die europäische Rechtsentwicklung, denn seit 1997 enthält auch der Vertrag über die Europäischen Gemeinschaften eine Diskriminierungsvorschrift, die behinderte Menschen erfaßt. Eine entsprechende EG-Richtlinie zur Gleichberechtigung im Arbeitsleben, steht kurz vor ihrer Verabschiedung. Die Erfahrungen aus den USA zeigen, daß die Kosten der sogenannten «zumutbaren Anpassungen» gering sind. Mehr als 80% der Maßnahmen kosten weniger als 500 US $$. Das Beispiel der USA zeigt auch, daß Gleichstellungsgesetze ökonomisch sinnvoll sind, denn sie erschließen neue Märkte und Kundenkreise.

Deutschland hat international einen guten Ruf als Rehabilitationsland für Behinderte. Diesen Ruf wird es verlieren, wenn es sich nicht von seiner «seperate but equal» – Doktrin verabschiedet, denn Rehabilitation darf zukünftig nicht mehr mit Aussonderung verknüpft sein.



[1]  (ab einer bestimmten Anzahl von Arbeitsplätzen)

[2] Mayerson, Arlene. American with Disabilities Act Annotated. Title II, Sec. 202, S. 14-15 (eigene Übersetzung, Anm. d. Verf.)




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