Einleitung zum Verwaltungs- und Gerichtsverfahren
(Gunther Jürgens)

I. Verwaltungsverfahren

Besondere Regelungen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung sind im Sozialgesetzbuch 1. und 10. Buch (SGB I bzw. X) enthalten. § 17 Abs. 2 Satz 1 SGB I regelt, dass hörbehinderte Menschen das Recht haben, bei der Ausführung von Sozialleistungen, insbesondere auch bei ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen, Gebärdensprache zu verwenden. Satz 2 verpflichtet die zuständigen Leistungsträger, die durch die Verwendung der Gebärdensprache und anderer Kommunikationshilfen entstehenden Kosten zu tragen. Nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB X haben hörbehinderte Menschen das Recht, zur Verständigung in der Amtssprache (Deutsch) Gebärdensprache zu verwenden. Die Aufwendungen für einen Dolmetscher sind von der Behörde oder dem zuständigen Leistungsträger zu tragen.

Diese beiden Regelungen gelten nur für das Verwaltungsverfahren auf Erlangung von Sozialleistungen, für die die Regelungen des Sozialgesetzbuches anwendbar sind, also etwa für alle Sozialversicherungen wie Kranken- Arbeitslosen- und Rentenversicherung, Sozialhilfe und Jugendhilfe sowie Grundsicherung für Arbeitslose, aber auch für Leistungen etwa nach dem Wohngeldgesetz und dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Sie finden hingegen keine Anwendung bei nicht mit Sozialleitungen im Zusammenhang stehenden Verwaltungsverfahren, etwa bei der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht. Die diese Materie regelnden Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder enthalten keine vergleichbaren Regelungen. Hier gibt es also noch Handlungsbedarf. Für hörbehinderte Menschen sind aber der Gleichstellung dienende Regelungen in den mittlerweile in allen Bundesländern erlassenen Gleichstellungsgesetzen enthalten, wozu auf die obigen Ausführungen unter A. verwiesen werden kann.

II. Gerichtsverfahren

Besondere Gleichstellungsregelungen für das Gerichtsverfahren enthält das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), das für die Verfahren vor den Gerichten aller Gerichtsbarkeiten gilt, also für die Zivil- und Strafgerichte, die Arbeits-, Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichte, jeweils in allen Instanzen, und auch für die Staatsanwaltschaften.

§ 186 Abs. 1 GVG bestimmt, dass die Verständigung mit einer hör- oder sprachbehinderten Person in der Verhandlung nach ihrer Wahl mündlich, schriftlich oder mit Hilfe einer die Verständigung ermöglichenden Person, die vom Gericht hinzuzuziehen ist, erfolgt. Das Gericht hat auch die für die mündliche oder schriftliche Verständigung geeigneten technischen Hilfsmittel bereitzustellen. Die sprachbehinderte Person ist auf dieses Wahlrecht hinzuweisen. Für den Fall, dass von dem Wahlrecht kein Gebrauch gemacht wird oder eine ausreichende Verständigung in der gewählten Form nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist, kann das Gericht nach Absatz 2 eine schriftliche Verständigung oder die Hinzuziehung einer Person als Dolmetscher anordnen. Ergänzend sieht § 187 Abs. 1 GVG für Straf- und Bußgeldverfahren vor, dass das Gericht für einen Beschuldigten oder Verurteilten, der hör- oder sprachbehindert ist, einen Dolmetscher heranzieht, soweit dies zur Ausübung der strafprozessualen Rechte erforderlich ist.

Nach § 191 a Abs. 1 GVG kann eine blinde oder sehbehinderte Person verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Auslagen werden hierfür nicht erhoben. Zur Konkretisierung wird verwiesen auf eine Rechtsverordnung, für die die Rechtsgrundlage in Abs. 2 der Regelung enthalten ist. Aufgrund dieser Regelung ist vom Bundesministerium der Justiz die Zugänglichmachungsverordnung (ZMV) vom 26. Februar 2007 erlassen worden, die am 1. Juni 2007 in Kraft getreten ist. Dort ist etwa geregelt, dass berechtigte Personen auf ihren Anspruch zur Zungänglichmachung hinzuweisen sind. Die fraglichen Dokumente können danach der berechtigten Person schriftlich, elektronisch, akustisch, mündlich, fernmündlich oder in anderer geeigneter Weise zugänglich gemacht werden. Die schriftliche Zugänglichmachung erfolgt in Blindenschrift oder in Großdruck, die elektronische Zugänglichmachung durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments. Da nicht jede blinde oder sehbehinderte Person der Blindenschrift fähig ist oder über die technischen Voraussetzungen für eine elektronische Übermittlung verfügt, haben die berechtigten Personen ein Wahlrecht, welche Form der Zungänglichmachung sie wünschen. Um das Gericht oder die Staatsanwaltschaft in die Lage zu versetzen, diese Vorschriften zu erfüllen, was insbesondere die Kenntnis von der Blindheit oder der Sehbehinderung voraussetzt, sind berechtigte Personen verpflichtet, die zur Zugänglichmachung verpflichtete Stelle unverzüglich über ihre Blindheit oder Sehbehinderung in Kenntnis zu setzen und mitzuteilen, in welcher Form ihr die Dokumente zugänglich gemacht werden können.

Die Regelungen dienen jeweils dem Ziel, die gleichberechtigte Teilhabe auch an gerichtlichen Verfahren zu fördern. Sie gehen erkennbar davon aus, dass bei hör- oder sprachbehinderten Menschen allein die Kommunikation geregelt werden muss, die gewöhnlich per Lautsprache erfolgt, während bei blinden und sehbehinderten Menschen allein die Wahrnehmung von Texten und anderen Dokumenten geregelt werden muss, die normalerweise in Schwarzschrift optisch wahrgenommen werden. Nicht geregelt ist hingegen etwa der Fall, dass eine gehörlose Person nicht in der Lage ist, Schwarzschrift zu verstehen, ohne blind oder sehbehindert zu sein. Andererseits ist die Kommunikation mit blinden oder sehbehinderten Personen in der Verhandlung nicht geregelt, obwohl auch hier - etwa hinsichtlich einer Augenscheinseinnahme - Probleme auftreten können. Allerdings können schon der Grundsatz des fairen Verfahrens und das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gebieten, bei einer Augenscheinseinnahme einem blinden oder stark sehbehinderten Beteiligten den Gegenstand der Augenscheinseinnahme zu beschreiben. Besteht zusätzlich eine Hörbehinderung gilt § 186 uneingeschränkt, so dass etwa die Eingabe durch eine Hilfsperson in ein Gerät zur Umsetzung in Punktschrift geboten sein kann, was zur schriftlichen Verständigung zu zählen ist. Vollkommen ungeregelt ist die Verständigung mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen.

Die Bestimmungen gelten nicht nur für unmittelbar am Verfahren beteiligte Personen wie Angeklagte, Kläger und Beklagte, sondern auch für andere Personen wie Beigeladene und Zeugen. Für Zeugen wird eher die Regelung über die Kommunikation mit hör- oder sprachbehinderten Personen in der Verhandlung nach § 186 Abs. 1 GVG bedeutsam sein. Hier ist ergänzend auf die Regelung in § 483 Zivilprozessordnung (ZPO) hinzuweisen, nach der eine hör- oder sprachbehinderte Person den Zeugeneid nach ihrer Wahl mittels Nachsprechens der Eidesformel, Abschreibens und Unterschreibens der Eidesformel oder mit Hilfe einer die Verständigung ermöglichenden Person, die vom Gericht hinzuzuziehen ist, leistet. Diese Bestimmung gilt durch Verweisung auch bei Anwendung der anderen Verfahrensordnungen. Ungeregelt und auch in der Rechtsprechung bisher nicht geklärt ist das Verhältnis der Bestimmung in § 186 GVG etwa zum Grundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung und des Anspruchs der am Verfahren Beteiligten auf die mündliche Aussage eines Zeugen.

Auch die Regelung in § 191 a GVG ist noch unvollständig. Sie gilt nämlich nur für gerichtliche Dokumente wie Mitteilungen, Ladungen und natürlich die Endentscheidung. Es wird hingegen die Ansicht vertreten, dass von einem anderen Beteiligten zur Akte gereichte Schriftstücke nicht hierunter fallen, so dass etwa ein blinder Beteiligter keinen Anspruch darauf haben soll, die Abschrift eines vom Gegner eingereichten Schriftsatzes in von ihm wahrnehmbarer Form zu erhalten. Dies liegt daran, dass die gerichtlichen Dokumente in der heutigen Zeit ohnehin meist auf elektronischem Wege bearbeitet werden und vorliegen, so dass die Umsetzung mittels technischer Hilfsmittel in Punktschrift oder die elektronische Übermittlung mit überschaubarem Aufwand leistbar sein dürfte. Dies ist bei von anderen Beteiligten eingereichten Unterlagen nicht der Fall, so dass der Aufwand für das Gericht weit höher wäre. Aus diesem Grunde sind auch nach § 2 Abs. 1 Satz 2 ZMV von einer Behörde vorgelegte Akten ausdrücklich von der Verordnung nicht erfasst. Dieses Problem wird sicher kleiner werden, je weiter der Weg zur elektronischen Akte fortschreitet.

Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass nach der Regelung in § 2 Abs. 2 ZMV die Vorschriften über die Zustellung unberührt bleiben. Das heißt etwa, dass die wirksame Zustellung einer Entscheidung in Schwarzschrift bereits die Rechtsmittelfrist auch dann in Gang setzt, wenn eine Zugänglichmachung erst später oder gar nicht erfolgt. Auch das Unterbleiben des eigentlich vorgeschriebenen Hinweises auf den Anspruch zur Zugänglichmachung soll nach in der Rechtsprechung vertretener Ansicht nicht dazu führen, dass die Rechtsmittelfrist nicht in Gang gesetzt wird oder bei Versäumung der Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann. Es besteht also die Gefahr, dass sich ein rechtsunkundiger blinder oder sehbehinderter Beteiligter, der von seinem Wahlrecht wirksam Gebrauch gemacht hat, irrtümlich darauf verlässt, die Übermittlung der Entscheidung auf dem von ihm gewählten Wege sei für den Beginn der Rechtsmittelfrist maßgebend.

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