NETZWERK ARTIKEL 3

Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.

Bericht über die Anhörung vor dem Sozialausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses



Neben dem   Betroffenenentwurf   gibt es in Berlin auch einen Entwurf des Gesetzgebers: ein so genanntes Gleichberechtigungsgesetz.
Von den Behindertenverbänden bedrängt, stellten die SPD- und CDU-Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses nach vertraulich gehandhabten Entwürfen einen gemeinsamen vor.

Hier nun als nachgereichte Information ein Bericht über die Anhörung vor dem Sozialausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses und zugleich Kommentar zu diesem Gesetzentwurf   -

von Bettina Theben vom Vorstand des NETZWERKs ARTIKEL 3:


Viele sind berufen - wenige durften kommen
Beratungen zum Antidiskriminierungsgesetz beginnen mit Diskriminierung


Alles hätte so schön sein sollen: Am UNO-Welttag der Behinderten, dem 3. Dezember, wollte der Sozialausschuß des Abgeordnetenhauses von Berlin die erste (und einzige) öffentliche Anhörung zum Entwurf von SPD/CDU für ein Antidiskriminierungsgesetz durchführen. Um sich - vor der im Oktober 1999 stattfindenden Wahl zum Abgeordnetenhaus - bei einer Personengruppe von immerhin ca. 15 Prozent in der Erinnerung zu halten, hatte man die Anhörung breit angekündigt, hatte den Entwurf teilweise gar - was nicht zutrifft - als mit Behinderten abgestimmt dargestellt, und schließlich die Vertreterin des NETZWERKs ARTIKEL 3 sowie eine Expertin des Berliner Netzwerks behinderter Frauen erst gar nicht eingeladen, weil sie zu kritisch seien.
Doch schien man dem Frieden nicht zu trauen.
Das Abgeordnetenhaus hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes ´gerüstet´: Vor dem Zugang zum Parlament befanden sich Metallabsperrgitter, zahlreiche Polizisten und Sicherheitskräfte - und bei fünf Grad unter Null auch jede Menge behinderte Menschen. Ihnen wurde z.T. unter Einsatz von massiver Gewalt der Zutritt verwehrt. Angeblich hätte die Bauaufsicht des Bezirkes Mitte, dem künftigen Regierungsdistrikt, kurz vor dem 3. Dezember die Höchstzahl der Rollstuhlfahrer, welche Einlaß finden ´dürften´, nach unten begrenzt. Trotz gültiger Karten also kein Zugang für Behinderte in das Parlament, stattdessen langes Warten in eisiger Kälte - und das am UNO-Welttag der Behinderten.
Dieses diskriminierende Verhalten war durch nichts gerechtfertigt, denn selbst wenn man diese bauaufsichtliche Auflage (deren tatsächliches Bestehen nicht mehr aufzuklären war) unterstellt, so hätten die Rollstuhlfahrer gleichwohl in das ebenerdige Foyer mit seinen breiten Türen eingelassen werden müssen, da es hier noch zu keinen erschwerten Rettungsbemühungen hätte kommen können. Außerdem drohten den Betroffenen konkrete Gesundheitsschäden, diese haben bei einer Abwägung den Vorrang vor bau- oder feuerpolizeilichen Auflagen.
Der Vorfall konnte vorerst nur dadurch entschärft werden, daß Vertreter der Behindertenverbände mit dem Vertreter der Bauaufsicht verhandelten, die Auflage zurückzunehmen; allerdings mußten die Eingelassenen mit der Fernsehübertragung Vorlieb nehmen.

Was hätte die Position, die Behinderte in den Vorstellungen zumindest von SPD und CDU einnehmen, besser verdeutlichen können, als dieses Szenario? Es hatte ja schon Chuszpe erfordert, am UNO-Tag der Behinderten überhaupt ein solches Gesetz, daß in keinem Punkt die Situation behinderter Bürger Berlins verbessern wird, zu diskutieren, aber dabei so einen großen Teil Betroffener derartig zu diskriminieren, das ersetzt jedes behindertenpolitische Programm der Koalitionsparteien.

Unter den Betroffenen war die Stimmung schon zuvor explosiv gewesen, da beide Parteien, nachdem sie durch Behindertenverbände in den Dialog gedrängt wurden, ohne weitere Abstimmung diesen völlig unzureichenden Entwurf konzipiert hatten und auch nach vielen Diskussionen daran festhielten, obwohl ihm alle Verbände und Vereine, die sich an den Gesprächen beteiligt hatten (bzw. davon Kenntnis erhielten), ablehnend gegenüberstanden. Das eigenartige Gebaren, nur ´handverlesene´ Sachverständige zur Anhörung einzuladen, weil sonst, wie verlautete, ein positives Votum für das Gesetz verhindert würde, tat sein übriges. Einen traurigen Höhepunkt bildete schließlich die Diskussion des Gesetzes wenige Tage zuvor im Bauausschuß: Dort nutzten CDU und SPD die Chance, noch einen Änderungsantrag zur Bauordnung vorzulegen, der die schon bestehenden Regelungen zugunsten barrierefreien Bauens weitgehend zurücknahm.

Dies ließ böse Vorahnungen aufleben: Sollte die Beratung zum neuen sog. Gleichberechtigungsgesetz (so der Name des Gesetzentwurfes von CDU und SPD) zum Anlaß genommen werden, mühsam durch Betroffene erlangte rechtliche Verbesserungen wieder zurückzunehmen? In der Anhörung war das Votum der Sachverständigen   - Vertreter der LAGH, Lebenshilfe, Movado, NETZWERK ARTIKEL 3, VdK und des Bündnisses für Selbstbestimmtes Leben Berlin, des Schwerhörigen- sowie des Gehörlosenverbandes -   klar und einhellig:
Dieses Gesetz ist an den meisten Stellen inhaltlich, an vielen auch rechtlich falsch und bringt für Behinderte keine Verbesserung, es handelt sich damit um ein Alibi-Gesetz,
um politische Handlungsfähigkeit, vielleicht sogar den ‚Guten Willen', von dem allerdings spätestens seit den Vorfällen des 3. Dezember keine Rede mehr sein kann, unter Beweis zu stellen.
So ist auch nur schwer erträglich, wenn sich die Vertreter von CDU und SPD zu Beginn der Anhörung zu einem Gesetzentwurf, der die einschlägigen Regelungen zur Verbesserung der Zugänglichkeit von Gebäuden wie dem Abgeordnetenhaus gerade nicht enthält (und, wie zuvor immer wieder betont worden ist, auch nicht enthalten sollte), ja so betroffen zeigen, daß es immer wieder Schwierigkeiten für Rollstuhlfahrer gibt, Gebäude und Versammlungsstätten aufzusuchen! Wie formulierte es ein Politiker: "Da müßte man eine Lösung finden..." Richtig: in einem Antidiskriminierungsgesetz, für das wir schon lange Vorschläge gemacht haben, die solche Vorfälle dauerhaft verhindern würden.

Anmerkung: Während einer Parlamentssitzung, die zwei Wochen nach den Vorfällen stattfand, wies Parlamentspräsident Herwig Haase (CDU) die Verantwortung von sich. Stattdessen erinnerte er alle im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien an ihre Gesetzgebungskompetenz...!

B. Theben



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