Einleitung zum Baurecht
(Joachim Steinbrück)

I. Entwicklung und Einordnung

Neben den Straßen- und Wegegesetzen des Bundes und der Länder sind für den Bereich des Bauens das Baugesetzbuch (BauGB) sowie die Bauordnungen der Länder (Landesbauordnungen - LBO) von großer Bedeutung. Als Bundesgesetz enthält das BauGB u.a. Regelungen über das allgemeine und besondere Städtebaurecht, insbesondere auch über die Bauleitplanung, städtebauliche Sanierungsmaßnahmen, städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen, Stadtumbaumaßnahmen und die soziale Stadt. Die Landesbauordnungen regeln dem gegenüber, unter welchen Voraussetzungen einzelne bauliche Anlagen, vor allem auch Gebäude, zulässig sind und errichtet werden können. Allerdings unterliegen nicht alle baulichen Anlagen dem Geltungsbereich der jeweils anzuwendenden LBO. So sind beispielsweise Anlagen des öffentlichen Verkehrs einschließlich Zubehörs, Nebenanlagen und Nebenbetrieben mit Ausnahme von Gebäuden vom Geltungsbereich der Landesbauordnungen nicht erfasst.
Um eine weitgehende Zersplitterung des (Landes-) Baurechts zu vermeiden, hat die Bauministerkonferenz im November 2002 eine überarbeitete Fassung der Musterbauordnung (MBO) verabschiedet, die gegenüber den Landesbauordnungen eine Leitbildfunktion erfüllen soll (vgl. die Begründung zur MBO - Stand Nov. 2002), aber keinen verbindlichen Rechtscharakter hat.

II. Wesentlicher Inhalt

1. Das Baugesetzbuch

Nach § 1 Abs. 6 Ziff. 3 BauBG sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne auch die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung zu berücksichtigen, insbesondere die Bedürfnisse der Familien, der jungen, alten und behinderten Menschen, unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer sowie die Belange des Bildungswesens und von Sport, Freizeit und Erholung.

2. Die Musterbauordnung und die Landesbauordnungen

Die Landesbauordnungen sowie die MBO enthalten rechtliche Bestimmungen zum barrierefreien Bauen, die nicht nur für öffentliche, sondern auch für private Bauherren gelten. Damit formulieren sie Mindestanforderungen an die Barrierefreiheit, von denen durch speziellere Regelungen "nach oben" abgewichen werden kann wie dies z.B. in § 8 Abs. 1 BGG der Fall ist.
Die Landesbauordnungen unterscheiden im Hinblick auf die Anforderungen an die Barrierefreiheit von Gebäuden im Allgemeinen zwischen Wohnungen und öffentlich zugänglichen Gebäuden bzw. Gebäudeteilen.
So verlangt § 50 Abs. 1 SächsLBO beispielsweise, dass in Gebäuden mit mehr als zwei Wohnungen die Wohnungen eines Geschosses barrierefrei erreichbar sein müssen. In diesen Wohnungen müssen die Wohn- und Schlafräume, eine Toilette, ein Bad sowie die Küche oder die Kochnische mit dem Rollstuhl zugänglich sein (ähnlich z.B. auch Art. 48 Abs. 1 Satz 1 BayBO, § 43 Abs. 2 HBO, § 49 Abs. 2 LBO NRW). Andere LBO verlangen die barrierefreie Erreichbarkeit der Wohnungen mindestens eines Geschosses in Gebäuden mit mehr als vier Wohnungen (so z.B. § 35 Abs. 3 LBO BaWü, § 52 Abs. 1 HBauO). Die LBO von Mecklenburg-Vorpommern verlangt dies erst in Gebäuden mit mehr als sechs Wohnungen (§ 50 Abs. 1 LBauO M-V).
In anderen LBO wird aber nicht nur auf die barrierefreie Erreichbarkeit und Zugänglichkeit abgestellt. So bestimmt § 50 Abs. 1 BbgBO, dass in Wohngebäuden mit mehr als vier Wohnungen die Wohnungen eines Geschosses (generell) barrierefrei sein müssen. Nach § 44 Abs. 3 NBO müssen in Gebäuden mit mehr als vier Wohnungen die Wohnungen eines Geschosses barrierefrei sein; in jeder achten Wohnung eines Gebäudes müssen die Wohn- und Schlafräume, ein Bad und eine Toilette, die Küche oder eine Kochnische zusätzlich rollstuhlgerecht sein. In § 47 Abs 6 BremLBO ist bestimmt, dass in denjenigen Wohnungen, die barrierefrei erreichbar sein müssen, die Wohn- und Schlafräume, eine Toilette, ein Bad, die Küche oder eine Kochnische mit dem Rollstuhl zugänglich und nutzbar sein müssen.
Für öffentlich zugängliche Gebäude regeln die Landesbauordnungen im Allgemeinen und mit teilweise unterschiedlichen Formulierungen, dass die dem allgemeinen Besucherverkehr dienenden Teile barrierefrei, d.h. so zu gestalten sind, dass sie den besonderen Belangen von behinderten und älteren Menschen sowie von Personen mit Kindern Rechnung tragen (vgl. z.B. § 39 LBO BaWü, § 51 Abs 2 LBO Rh.-Pf., § 53 Abs. 1 und 2 BremLBO, Art. 48 Abs. 2 BayBO).

Eine Reihe von LBO enthält auch Bestimmungen, aus denen sich die konkreten technischen Anforderungen an die Barrierefreiheit ergeben. So regelt beispielsweise Art. 48 Abs. 4 BayBO für diejenigen Wohnungen, die nach der BayBO barrierefrei erreichbar sein müssen, sowie für die dem allgemeinen Besucherverkehr dienenden Teile öffentlich zugänglicher baulicher Anlagen, dass sie durch einen Eingang mit einer lichten Durchgangsbreite von mindestens 0,90 m stufenlos erreichbar sein müssen, dass vor Türen eine ausreichende Bewegungsfläche vorhanden sein muss, dass Rampen nicht mehr als 6 v.H. geneigt sein dürfen, mindestens 1,20 m breit sein und beidseitig einen festen griffsicheren Handlauf haben müssen, dass am Ende und am Anfang jeder Rampe ein Podest und alle 6 m ein Zwischenpodest anzuordnen ist und dass die Podeste eine Länge von mindestens 1,50 m haben müssen. Weiter bestimmt § 48 Abs. 4 BayBO ausschließlich für die dem allgemeinen Besucherverkehr dienenden Teile öffentlich zugänglicher baulicher Anlagen, dass Treppen auf beiden Seiten griffsichere Handläufe erhalten müssen, die über Treppenabsätze und Fensteröffnungen sowie über die letzten Stufen zu führen sind, dass die Treppen Setzstufen haben müssen, dass Flure mindestens 1,50 m breit sein müssen, dass ein Toilettenraum auch für Benutzer von Rollstühlen erreichbar und geeignet sein muss und dass dieser zu kennzeichnen ist (ähnlich auch § 51 Abs. 3 Bau Bln, § 52 Abs. 4 HBauO, § 55 Abs. 4 LBO NRW, § 51 Abs. 3 LBO Rh.-Pf., § 50 Abs. 4 SaarLBO, § 50 Abs. 3 SächsBO, § 49 Abs. 3 BauO LSA, § 53 Abs. 3 ThürBO). Soweit sich die konkreten technischen Anforderungen an barrierefreies Bauen nicht unmittelbar aus der jeweiligen Landesbauordnung ergeben, sind hierfür die jeweiligen technischen Baubestimmungen maßgeblich. Denn die Landesbauordnungen sehen vor, dass zu ihnen technische Regeln als verbindliche technische Baubestimmungen erlassen werden können. So sind die DIN-Normen 18024 Teil 1 und 2 sowie 18025 Teil 1 und 2 zum barrierefreien Bauen nur soweit verbindlich wie sie in die technischen Baubestimmungen der jeweiligen Landesbauordnung aufgenommen worden sind. Die technischen Baubestimmungen zur LBO Rheinland-Pfalz beispielsweise können im Internet unter folgender Internetadresse eingesehen werden: http://www.fm.rlp.de (Bauen - Baurecht und Bautechnik - Bauvorschriften - Liste der Technischen Baubestimmungen.

III. Rechtsdurchsetzung

Von besonderer Bedeutung für die Frage der Wirksamkeit der Bestimmungen zur Herstellung von Barrierefreiheit in den Landesbauordnungen sind das "vereinfachte Baugenehmigungsverfahren" und die "Genehmigungsfreistellung".
Gebäude, die der Genehmigungsfreistellung unterliegen, bedürfen keiner Baugenehmigung. Von der für die Bauaufsicht zuständigen Stelle wird lediglich noch geprüft, ob die Voraussetzungen für die Freistellung von der Genehmigungspflicht gegeben sind (vgl. hierzu z.B. § 62 MBO -Stand Nov. 2002).
Bei dem vereinfachten Genehmigungsverfahren findet nur eine eingeschränkte Überprüfung des Bauvorhabens statt (vgl. hierzu § 63 MBO).
Durch die Genehmigungsfreistellung und das vereinfachte Genehmigungsverfahren wird die behördliche Bauaufsicht vor allem auch vor der Errichtung von Gebäuden, für die diese Verfahrensvereinfachungen gelten, zurückgenommen. So bedürfen nach Art. 58 BayBO Gebäude, die keine Sonderbauten sind, unter den in der gen. Bestimmung im Einzelnen aufgeführten Voraussetzungen keiner Genehmigung; die Definition "Sonderbauten" ergibt sich dabei aus Art. 2 Abs. 4 BayBO. Hiernach sind z.B. Sonderbauten
- Verkaufsstätten, deren Verkaufsräume und Ladenstraßen eine Fläche von insgesamt mehr als 800 m2 haben,
- Gebäude mit Räumen, die einer Büro- oder Verwaltungsnutzung dienen und einzeln mehr als 400 m2 haben,
- Gaststätten mit mehr als 40 Gastplätzen, Beherbergungsstätten mit mehr als zwölf Betten und Spielhallen mit mehr als 150 m2.
Unter den jeweils angegebenen Größen liegende Gebäude sind keine Sonderbauten und bedürfen deshalb nach der BayBO keiner Baugenehmigung, sofern die weiteren Voraussetzungen für die Genehmigungsfreistellung erfüllt sind.

Aus Anlass der Novellierung der BremLBO mit Wirkung zum 01.05.2003 - für die BremLBO gilt die Genehmigungsfreistellung unter den im Einzelnen geregelten Voraussetzungen für den Wohnungsbau - hat der Senator für Bau, Umwelt und Verkehr mit seiner Verwaltungsvorschrift zu § 47 Abs. 6 BremLBO stichprobenartige Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung der Bestimmungen zur Barrierefreiheit im Wohnungsbau angeordnet.
Aus dem im August 2006 vorgelegten "Erfahrungsbericht Barrierefreiheit im allgemeinen Wohnungsbau" ergibt sich, dass von 15 Wohnungsbauvorhaben, die der Genehmigungsfreistellung oder dem vereinfachten Genehmigungsverfahren unterlagen, lediglich vier unbeanstandet blieben. Bei den übrigen elf Gebäuden wurden insgesamt 39 Verstöße gegen die nach der BremLBO einschlägigen Bestimmungen zur Herstellung von Barrierefreiheit festgestellt.
Das Ergebnis dieser stichprobenartigen Kontrollen begründet die Befürchtung, dass die Genehmigungsfreistellung sowie das erleichterte Genehmigungsverfahren u.a. auch dazu führen können, dass landesbaurechtliche Bestimmungen zur Herstellung von Barrierefreiheit wegen einer nicht mehr gegebenen präventiven Bauaufsicht bzw. -kontrolle häufig missachtet werden (könnten).

Der Durchsetzung der Bestimmungen zur Barrierefreiheit kann im Bereich des Bauordnungsrechts weiterhin auch das Baugenehmigungsverfahren als präventives Verfahren dienen, soweit es noch durchzuführen ist. Bei denjenigen baulichen Anlagen, bei denen nur noch ein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren durchgeführt wird oder die der Genehmigungsfreistellung unterliegen, können von den jeweiligen Bauaufsichtsbehörden stichprobenartige Kontrollen durchgeführt und bei festgestellten Verstößen Auflagen erteilt sowie Bußgelder ausgesprochen werden. In Betracht kann auch der behördliche Ausspruch von Nutzungsverboten kommen.
Im Bundesland Berlin kann nach § 15 Abs. 1 des Landesgleichberechtigungsgesetzes ein im Landesbeirat für Menschen mit Behinderung mit einem stimmberechtigten Mitglied vertretener rechtsfähiger gemeinnütziger Verband oder Verein, ohne die Verletzung eigener Rechte darlegen zu müssen, nach Maßgabe der Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung Widerspruch einlegen und gerichtlichen Rechtsschutz beantragen (Rechtsbehelfe), wenn er geltend macht, dass die öffentliche Verwaltung in
rechtswidriger Weise eine Abweichung von den Vorschriften des § 50 Abs. 1 Satz 1 oder des § 51 der Bauordnung für Berlin zulässt. Damit unterliegen Abweichungen von den Bestimmungen zur Barrierefreiheit nach der BauO Bln durch die Verwaltung dem Verbandsklagerecht nach dem Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz.

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