Kassel: Am 22. April haben Dr. Sigrid Arnade und Hans-Günter Heiden vom NETZWERK ARTIKEL 3 ihre Tour mit dem beschilderten VW Bus - dem Mehr Barrierefreiheit Wagen - in Berlin gestartet. Am 9. Mai haben sie nun ihre Tour in Kassel mit den letzten Terminen abgeschlossen und dabei mit zwei Bundestagsabgeordneten und Interessenvertreter*innen über das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz gesprochen. Das letzte Gespräch fand aber mit Marleen Soetandi statt, die die Logos für die Aktion "Noch 100 Tage für ein gutes Barrierefreiheitsrecht entwickelt hat und aus eigener Erfahrung weiß, auf welche Barrieren sie stößt, wenn sie mit ihrem Elektrorollstuhl unterwegs ist.
Der Kasseler Bundestagsabgeordnete Timon Gremmels von der SPD ist Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Energie sowie im Petitionsausschuss des Bundestages. Trotz Online-SPD-Parteitags schaffte er es am 9. Mai, einige Minuten zum Gespräch mit Dr. Sigrid Arnade zum Mehr Barrierefreiheit Wagen ans Kasseler Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen zu kommen und sich mit ihr über das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz auszutauschen.
Er erklärte: "Nach der UN-Behindertenrechtskonvention müssten wir viel weiter sein. Wir werden in einem Entschließungsantrag die Bundesländer auffordern, über die Landesbauordnungen die Barrierefreiheit der baulichen Umwelt zu gewährleisten. Mich stören auch die vielen Ausnahmeregelungen im Gesetz. Außerdem sollten wir uns die langen Übergangsfristen nochmal anschauen."
Matthias Nölke ist seit April 2020 Abgeordneter des Deutschen Bundestages und dort u.a. für die FDP Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Er erklärte in Sachen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: "Wir wissen, dass das Gesetz unzureichend ist. Deshalb werden wir uns unter anderem für eine Verkürzung der Übergangsfristen sowie die Einbeziehung der baulichen Umwelt einsetzen. Wir werden auch dafür eintreten, dass die Pflicht zur Barrierefreiheit nicht nur für den Kundenbereich, sondern auch für den Geschäftsbereich besteht."
Uwe Frevert von der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) des Verein Selbstbestimmt Leben in Nordhessen (SliN) und seit vielen Jahren im Vorstand der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) aktiv, machte deutlich: "Wir brauchen ein Barrierefreiheitskonzept für die gesamte Gesellschaft. Auch der ganze private Bereich muss geregelt werden. Bisher ist alles nur Flickwerk und das ist teuer, wenn Beispiel mein Assistent für mich Geld abheben muss, weil der Automat nur über Stufen zu erreichen ist."
Ottmar Miles-Paul, der die Aktion "Noch 100 Tage für ein gutes Barrierefreiheitsrecht" koordiniert und im Bündnis für ein gutes Barrierefreiheitsrecht mitwirkt, kennt alle Höhen und Tiefen der derzeitigen Diskussion um das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Er erklärte im Gespräch mit Dr. Sigrid Arnade: "Es ist so frustrierend: Wir machen Aktionen, kämpfen, schreiben, erklären und stoßen auf Politiker*innen, die sich nicht richtig um unsere Themen kümmern. Und dann bekommen wir wieder die alte Leier zu hören: Wir müssten Geduld haben, es sei der erste Schritt - aber ich frage: wie lange noch? Wärend dieser Kampagne des Tage-runter-Zählens habe ich viele emotionale Wellen, herauf und wieder hinunter, erlebt. Wir werden aber bis zur letzten Minute für Veränderungen am Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und für gute und umfassende Regelungen kämpfen."
Auch zum letzten Tourstopp hatte Dr. Sigrid Arnade eine Frage des Tages mitgebracht, die sie allen Gesprächspartner*innen zum Schluss des Gesprächs stellte: Diese war "Wann und wie erreichen wir den Barrierefreiheitsstandard, den die USA bereits 1990 gesetzlich festgeschrieben haben?"
Darauf antwortete Ottmar Miles-Paul: "Zwischen dem 1. Januar 2022, wenn wir engagierte Bundestagsabgeordnete haben, die ein gutes und umfassendes Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verabschieden und vielleicht 2059, wenn sich die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention zum 50. Mal jährt. Wir erreichen das nur, wenn wir frecher und lauter werden und viele Abgeordnete mit Behinderung im Bundestag vertreten sind, die sich auch für die Belange behinderter Menschen stark machen." Uwe Frevert sieht das pessimistischer, er antwortete: "Ich werde das wohl nicht mehr erleben. Um das zu erreichen, brauchen wir einen Politikwandel, bei dem nicht mehr die Wirtschaftsinteressen im Vordergrund stehen. Wir brauchen mutige Politiker*innen, die sich dafür einsetzen, dass wirklich alle teilhaben können."
Matthias Nölke von der FDP brachte dies so auf den Punkt: "Am liebsten morgen, und ich werde mich nach Kräften für ein gutes Gesetz einsetzen." Timon Gremmels von der SPD hatte folgende Antwort auf die Frage des Tages parat: "Das sollten wir spätestens mit dem Kohleausstieg erreichen, wobei beides zu beschleunigen ist. Nach Corona werden wir viele Konjunkturprogramme auflegen müssen. Diese sollten mit der Pflicht zur Barrierefreiheit verbunden werden." Und Marleen antwortete wie folgt auf die Frage: "Ich hoffe, dass das in den nächsten drei Jahren gelingt. Hilfreich dazu wäre, wenn die Leute, die Gesetze machen, etwas von dem Thema verstehen, das sie regeln. Wer beispielweise über Pflegethemen entscheidet, sollte selbst in der Pflege gearbeitet haben."