Regensburg/Mallersdorf-Pfaffenberg: Als Anke Kidan aus Regensburg vor einigen Jahren zusammen mit Silke Wanninger-Bachem aus Mallersdorf-Pfaffenberg an einem Schulungskurs für zukünftige Führungskräfte in der Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen in Berlin teilgenommen hatte, war es für sie noch ein Traum, dass sich autistische Menschen in Bayern landesweit zusammenschließen. Mittlerweile wirken Anke Kidan und Silke Wanninger-Bachem im Vorstand des am 18. Oktober 2021 gegründeten Vereins Autismus Selbstvertretung Bayern mit. Die Verwirklichung dieses Traums betrachtet das NETZWERK ARTIKEL 3 als eine gute Nachricht zur Inklusion.
Vor der Vereinsgründung gab es zwar regional lose Zusammenschlüsse von Autistinnen und Autisten, die sich in verschiedenen kleineren Aktionen, wie offenen Briefen an Politiker:innen und Verbände selbstbestimmt für ihre Interessen einsetzten. An politischen Entscheidungsprozessen wurden jedoch von Nichtautist:innen geführte Organisationen beteiligt, die ihrerseits den Anspruch erhoben, Autistinnen und Autisten zu repräsentieren. Um nicht nur punktuell ein bisschen mitreden zu dürfen, sondern landesweit wirksam etwas verändern zu können, brauchte es also mehr, wie Anke Kidan und Silke Wanninger-Bachem berichten. Schnell war ihnen klar, dass die gängigen Strukturen für eine Beteiligung von Menschen mit Behinderung die Gründung einer Selbstvertretungsorganisation erforderten, um den Anspruch auf politische Teilhabe einfordern und an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen mitwirken zu können.
Anke Kidan engagiert sich seit Jahren in der Selbsthilfe. Zusammen mit Silke Wanninger-Bachem organisiert sie die Regensburger Selbsthilfegruppe Asperger Kultur. Über dieses Engagement hatten beide die Erfahrung gemacht, dass viele Autistinnen und Autisten wegen der Gefahr von Stigmatisierung lieber anonym bleiben wollen. Deshalb war es nicht ganz einfach, eine entsprechende Strategie bzw. ein konkretes Projekt zur Verwirklichung dieses Traums zu entwickeln. Denn am geeignetsten erschien den beiden die in Deutschland am häufigsten gewählte Organisationsform Verein, aber autistische Menschen sind eher nicht dafür bekannt, sich in Vereinen zu versammeln. Eine der Herausforderungen bestand also darin, genügend autistische Aktive zusammenzubringen, die sich bereit erklärten, für eine Vereinsgründung aus ihrer Anonymität herauszutreten. Also machten die beiden sich bayernweit auf die Suche.
Mittlerweile wirkt Anke Kidan im Vorstand des am 18. Oktober 2021 gegründeten Vereins Autismus Selbstvertretung Bayern als Schatzmeisterin mit. Silke Wanninger-Bachem ist 1. Vorsitzende und hat sich nicht nur durch ihre Arbeit als Projektgruppenmoderatorin der Autismus-Strategie-Bayern ein großes Netzwerk rund um den Themenbereich Autismus aufgebaut. Nanna Lanz aus München, die als stellvertretende Vorsitzende eine weitere Triebkraft im Vorstand des neuen Vereins ist, war gleichfalls an der Strategieentwicklung beteiligt und ist ebenfalls über die Hauptstadtkreise hinaus bestens vernetzt. Der Leitsatz „Nichts über uns ohne uns“ ist für die autistischen Akteurinnen eine wichtige Leitlinie ihres Engagements, denn sie sind es leid, dass immer noch meist nur Wohlfahrtsverbände und Angehörige gefragt werden, wenn es um die Belange von Autistinnen und Autisten geht.
„Dass Angehörige ihre autistischen Kinder vertreten, ist wichtig und richtig. Viele erwachsene Autistinnen und Autisten haben aber einen ganz eigenen Blick auf ihre Lebensumstände und können und wollen aus ihrer anderen Perspektive heraus mit ihren Stärken mitmischen. Es kann nicht wirklich etwas Gutes dabei herauskommen, wenn Menschen, die keine Ahnung haben, wie es ist, in einer nichtautistischen Welt zu leben, alleine darüber bestimmen, was die Lebensqualität für Autistinnen und Autisten verbessern soll“, merkt Silke Wanninger-Bachem an. „Eine autistische Perspektive, ein detaillierter Blick aus der Innensicht ist für gute Inklusion unverzichtbar, selbst wenn er manchmal gewohnte Dinge auf den Kopf stellt“ meint sie. „Autistische Menschen sehen die Welt oft aus einem anderen Winkel, ihre Wahrnehmung bringt es mit sich, dass ihnen Dinge auffallen, die anderen entgehen und ihre Denkweise führt zu ungewöhnlichen Problemlösungen. Autistinnen und Autisten können Inklusionsprozesse bereichern, international tun sie das bereits. National ist es ein weiterer Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, dass auch wir in den Gremien mitbestimmen, die inklusionsrelevante Dinge besprechen und entscheiden. Es ist ein kleiner Schritt in Richtung inklusiver Gesellschaft, dass es mit der Vereinsgründung jetzt eine landesweite Selbstvertretung von und für Autistinnen und Autisten gibt. Für uns ist es jedoch ein großer Schritt, dass wir uns selbst organisieren, aus der Innensicht aufklären und für unsere Interessen selbstbestimmt eintreten!“ betont sie.
"Wir wollen Autistinnen und Autisten dabei unterstützen, ein autismusgerechtes Leben in einer vielfältigen Welt zu leben", äußert Kerstin Pilgermann, die Pressevertreterin des Vereins Autismus Selbstvertretung Bayern. "Wir wollen auch erreichen, dass Autistinnen und Autisten von Fördermitteln besser profitieren, indem sie über die Entscheidung zur Verwendung gehört werden. Hierzu möchten wir Betroffene, Angehörige, Behörden, Organisationen, Unternehmen und Privatpersonen mit Informationen versorgen und sie zum Dialog einladen", erläutert sie. „Gerade im Bereich der Aufklärung ist noch viel zu tun. Die Öffentlichkeit ist informierter, aber wir bemerken immer wieder, dass es notwendig ist, veraltetes Wissen, falsche Informationen und Vorurteile zu Autismus abzubauen. Dazu wollen und können wir beitragen“, bekräftigt Silke Wanninger-Bachem.
Der Verein will sich langfristig mit anderen Menschen mit Behinderung zusammenschließen und möglichst breit und auch überregional vernetzen, um die Wirkung seiner Arbeit zu verstärken. Das große Ziel des Vereins für die Zukunft ist es, dass der Einfluss von autistischen Menschen auf die Gestaltung ihres eigenen Lebens gestärkt wird und dass sie verstärkt in der Beratung behinderter Menschen mitwirken können. Um dieses Ziel zu erreichen, gab es bereits erste Gespräche mit Verantwortlichen des bayerischen Sozialministeriums. "Denn eine gelingende Selbstvertretung und eine gute Beratung braucht entsprechende Ressourcen", weiß Anke Kidan als Verantwortliche des neuen Vereins für die Finanzen. Sie arbeitet seit mehr als drei Jahren als hauptamtliche Beraterin in einer ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungsstelle (EUTB) und kann dort u.a. ihre eigenen Erfahrungen als Autistin einbringen und auf erste Erfolge bei der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zurückblicken. Zusätzlich konnte sie als Mentorin im Programm des Hildegardis e. V. und ixnet erleben und demonstrieren, dass Menschen mit Behinderung anderen auf ihrem Lebensweg und der Wegfindung behilflich sein können.
Anke Kidan weiß also aus eigener Erfahrung, dass es im Sinne von Empowerment Autistinnen und Autisten braucht, die einander beraten und positiv unterstützen. Welche Potenziale in der Peer Beratung – also in diesem Fall der Beratung von autistischen Menschen durch autistische Menschen steckt, konnte sie bei ihrer Tätigkeit für die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung bereits erleben. Während ein Integrationsfachdienst einer Autistin, die erfolgreich studiert hatte, erklärte, dass sie nicht für die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt geeignet sei, konnte Anke Kidan durch eine entsprechende Beratung und Unterstützung einen Beitrag dazu leisten, dass diese Autistin das Gegenteil bewies und mittlerweile eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt in ihrem Wunschbereich innehat. Auch bei diesem Beispiel einer weiteren guten Nachricht zur Inklusion wurde der Traum eines Menschen mit Behinderung wahr - genau wie Anke Kidans Traum von einer Selbstvertretung von und für Autistinnen und Autisten wahr wurde